Wie bereits in der Ausstellung „DIOÉ“ in Hamburg (2003) greife ich für „LES BARRICADES“ auf meinen lange gesammelten Fundus an Baustellen-, Container-, und Sperrmüllhölzern zurück. Dabei gehe ich dieses Mal einen Schritt weiter und zeige nicht mehr nur die Ästhetik provisorischer Baustellenkonstruktionen, sondern ihre Wandlung zu einer Ästhetik der Auflehnung. Aus der Baustelle werden Barrikaden – die Hölzer tragen die Spuren und Zeichen der Straße und werden als Barrikaden zum Träger der Message.
Am Eröffnungsabend wirbelt eine Windmaschine Flugblätter ins Publikum, die auf dem Boden gelandet und zertreten Teil des Ausstellungsthemas werden. Die Ausstellung besteht aus drei Räumen, jeweils durch einen Durchgang verbunden. Der erste Durchgang wird durch einen Bauzaun verdeckt und lässt so dahinter einen neuen Raum, mit neuen Perspektiven, entstehen – wie ein Flur oder Sichtschutz. Die Architektur des Provisorischen bietet viele Interpretationsmöglichkeiten.
Oben links: „Ohne Titel“, Bauzaun (Vorderseite), verschiedene Materialien: Sperrmüllholz, Wellpappe, Plakatpapiere, Acrylfarbe, Fotokopien.
Oben rechts: Bauzaun (Rückseite).
Im mittleren Raum wird es konkret. Er enthält eine Barrikade mit allen Objekten, die wir im klassischen Sinne mit einer solchen assoziieren. Inklusive einer Figur, die in ihrer Haltung und Farbästhetik an Delacroix’ Allegorie aus dem Gemälde „La Liberté guidant le peuple“ erinnert. Während Delacroix’ Darstellung der weiblichen Allegorie als gängige Verkörperung der Nation in der Kunstgeschichte diente, ging es mir um die Ästhetik weiblicher Auflehnung und Ermächtigung. Die Figur aus Maschendraht ist fast durchsichtig, hinterfragt aber dennoch auf plakative Weise stereotype Darstellungen von Frauen in Kunstwerken, die bekanntlich aus männlicher Perspektive entstanden sind. Davon unterscheidet sich meine Darstellung beinahe nur durch meine Autorschaft, die allerdings den entscheidenden Unterschied ausmacht.
Oben links: „Elisabeth sur les barricades“, verschiedene Materialien: Europaletten, Kohlesäcke, Autoreifen, Baustellen-Vierkantholz, Ytong-Steine, Seile.
Oben mitte: „Elisabeth“, verschiedene Materialien: Maske meines Gesichts aus aufgeschichtetem Latex, Maschendraht, Kantholz, Perücke, Secondhand-Kleidung, Kunststofffahne mit Farben.
Oben rechts: „Pflastersteine“, Maschendraht, Zeitungspapier, Gips, Pigmente, Farbe, Acrylbinder, Schellack.
Ich habe mich oft gefragt, welche historischen Vorbilder ich als Künstlerin haben oder in welcher intellektuellen Tradition ich mich sehen kann. Dabei erschien mir die Geschlechterdiskrepanz immer problematisch. Konnte ich wirklich die Arbeit eines historischen, männlichen Künstlers, Philosophen oder Schriftsteller als Referenz nehmen, so wie es für meine männlichen Kollegen selbstverständlich war? Offensichtlich nicht. Da ich mich nicht auf die wenigen Frauen berufen wollte, die historische Ausnahmeerscheinungen darstellten, war ich auf Recherche angewiesen. Das war 2004 noch nicht so einfach wie heute. Ich wollte eine bisher unbekannte Biografie mit Identifikationspotential kennenlernen.
Bei der Recherche zu den Flugblättern, die Zeitschriften und Murals zu feministischen Themen aus dem vergangenen Jahrhundert zeigten, stieß ich auf eine historische Person, die feministische Auflehnung im Sinne meiner hier gezeigten Straßenkampfästhetik hervorragend repräsentiert. Sie kämpfte mit allen Mitteln – chaotisch, anarchisch, clever, kampfbereit und sehr erfolgreich: Victoria Woodhull.
Victoria Woodhull war nicht nur die erste Frau, die 1872 für das Amt der US-Präsidentin kandidierte, sondern außerdem Verlegerin, Finanzmaklerin, Wahrsagerin, Frauenrechtlerin, Anarchistin, Rednerin und Autorin. Ihre Kandidatur war nur möglich, weil sie einen Fehler im System erkannte und für sich nutzte. Denn allein eine Kandidatur auf den Posten des Staatsoberhaupts war damals für Frauen ausgeschlossen. Woodhull war eine außerordentliche Persönlichkeit, die bereits im 19. Jahrhundert eine Form von Gleichberechtigung lebte, die selbst heute zumeist unerreicht bleibt.
Die Geschichte von Victoria Woodhull und ihrer Schwester Tennessee Claflin ist so rasant und amüsant, unverschämt und inspirierend, dass ich ihnen im Rahmen dieser Ausstellung ein Porträt auf einer Fotokopie eines Hirbawi widmete.
Oben links: „Victoria“, Bleistift auf Fotokopierpapier, Kunststofffeder.
Oben rechts: „Tennessee“, Bleistift auf Fotokopierpapier, Kunststofffeder.
Oben: Firmierung und Slogan, der von Woodhull und ihrer Schwester Tennessee Claflin herausgegebenen Zeitung.
Diese bemerkenswerten Frauen und ihre modernen Positionen in einer lediglich vermeintlich modernen Zeit verdienen wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als ich hier im Rahmen der Ausstellungsbeschreibung geben kann. Hier kann man mit dem Anfangen beginnen:
Der dritte Raum der Ausstellung diente der Präsentation von Zeichnungen, Kopien und Grafiken zum Thema. Darüber hinaus eine auf Stoff drapierte nachempfundene „Wahlkampfdekoration“ auf Baustellenholz.
Oben links: verschiedene Materialien, Bleistift, Buntstift auf Papier, Fotokopien, Papiere.
Oben rechts: Collage der Flugblätter.
Unten links: Zeichnung: „Ohne Titel“, Bleistift auf Papier.
Unten rechts: Zeichnung: „Evangel“, Bleistift auf Papier, Fotokopie.
Auch bei dieser Ausstellung riskierte ich aufgrund von Grenzüberschreitung erneut durch das Kunstraster zu fallen. Stilistisch verstoße ich mehrfach gegen Vieles, was im Allgemeinen als Kunst anerkannt und etabliert ist. Ich überschreite wissentlich die Grenzen des guten Geschmacks hin zum Kitsch, um Perspektiven zu erweitern und das etablierte Kunstverständnis in Frage zu stellen. Hinzu kommt die Anhäufung von Inhalten, die die gezeigten Objekte wie etwa die Barrikade und ihre Figur aus ihrem Kunstobjektstatus entheben. Eine Barrikade allein – ohne Beschriftung, ohne Figur und theroretischen Überbau – hätte eine Skulptur sein können. Eine Figur allein – ohne die zahlreichen figürlichen Attribute wie Kleidung, Pflastersteine, Säcke – hätte ein Kunstobjekt sein können.
Ich spiele hier mit der Vermischung von didaktischer Erlebniswelt und Kunstausstellung, um die formalen Grenzen der künstlerischen Darstellung zu hinterfragen und zu erweitern. Genauso sollte die inhaltliche Überfrachtung den Mangel an Biografien von Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, etc., und somit auch den Mangel an Vorbildern für Künstlerinnen in den Fokus rücken.